DEFROST

Ein Konsumgut, ein Objekt der Begierde, die Erinnerung an kindliche Glückseligkeit und kurzzeitige Erlösung von der glühenden Hitze der sengenden Sommersonne wird zur Ikone erhoben.

Vorsichtig muss die Plastikfolie abgeschält werden. Die Zunge bleibt bei den ersten Berührungen an der eiskalten Oberfläche kleben. Erst nach unendlichen Momenten der Geduld kann die süß fruchtige Erfrischung endlich schleckend verschlungen werden.

Mit einem kalt-rauchenden Capri aus der viel zu vereisten Kühltruhe wird im Handumdrehen ein freudiges Grinsen in Kindergesichter gezaubert. Das Eis am Stiel steckt voller individueller Erinnerungen, Emotionen und Erlebnisse.
Ein Glücksgefühl, das genauso fragil ist wie das künstliche Produkt aus Zucker, Wasser und Aromen selbst, welches ab dem Moment der Abwesenheit von Energiezufuhr zu zerfließen beginnt. Liegt das Eis plötzlich unwiderruflich verloren im Dreck der Erde, schlägt die Stimmung ebenso schnell in erschrockenes Entsetzen um, wie der Aggregatszustand der kühlen Süßigkeit in der gnadenlosen Mittagssonne auf Ursprung zurückgedreht wird. Auch die hoffnungsvollen elterlichen Versuche, den Dreck wegzuspülen, können den Schrecken des Verlusts nicht gänzlich wiedergutmachen. Das Malheur Fatale des Eis im Dreck ist vermutlich eine der unschuldigsten kollektiven Kindheitserinnerungen der industrialisierten Welt.

In Fabian Freytags großformatigen Fotoarbeiten Defrost wird das keinesfalls triviale Lebensmittel Stieleis in ebenjener Fragilität festgehalten und überlebensgroß zur Ikone erhoben. Ein Industrieprodukt, das nur durch das aufwendige Entziehen von Wärme entstehen und allein unter dauerhaftem Einsatz von Energie erhalten werden kann. Die internationale Erfolgsgeschichte des Speiseeis seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ist eine kleine, aber doch im Kern irrwitzige Absurdität der menschlichen Evolution. Getreu dem Motto: “Das, was ich nicht haben kann, will ich am dringendsten!” Ist das Eis heute an, Orten wo es natürlicherweise am unwahrscheinlichsten zu finden wäre, am wenigsten wegzudenken. Wo das Klima die Thermometer klettern lässt, steigt die Sehnsucht nach gefrorenem Wasser äquivalent.

Das Motiv der Bildserie ist der Point of no Return, der Moment, nach dem nichts mehr zu retten ist und nur noch an einem kahlen Holzstängel geknabbert werden kann. Die schmelzend-süße Welt wird in lebensmittelechter klinischer Reinheit gezeigt. Eine Ästhetik, die aus Produkt- und Werbefotografie bekannt ist und den sogenannten Beautyshots nachkommt, die uns als Konsument:innen vor allem daher bekannt sind, dass der Burger auf dem Tablett nie so aussieht wie er auf dem Poster beworben wurde. Trotzdem kann man sich der Illusion dieser künstlichen Perfektion nicht gänzlich entziehen.

Eine überästhetisierte Welt aus Konsum und Zucker schmilzt übergroß im gnadenlosen Kunstlicht der Kameraobjektive dahin.

Ein Text von Dominic von Vlahovits